Nur eine Sekunde

… Ja, ich gebe zu, ich habe Angst. Selbstverständlich spreche ich diesen Strudel an Gefühlen bei einer Sitzung mit Bosley an.

   „Werde ich je wieder unabhängig sein?“, frage ich erst vorsichtig nach.

Bosley neigt den Kopf zur Seite und denkt nach.

   „Es kommt darauf an, was Sie unter unabhängig verstehen?“, zögert er schließlich mit der Antwort.

   „Ich möchte frei sein!“, bricht es auch mir heraus, „Frei wie ein Vogel.“

Bosley jedoch blickt mir mit ernster Miene entgegen. Unerwartet lächelt er.

   „Es kommt darauf an, was Sie unter frei verstehen?“

Das gibt es ja nicht! Kann der Mensch keine befriedigende Antwort geben? Ich presse meine Lippen fest zusammen. Dieses Mal werde ich auf eine Antwort bestehen, das ist er mir eindeutig schuldig.

Als ich bloß abwarte und keine Anstalten mache, eine Diskussion zu beginnen, bequemt er sich zu guter Letzt zu einer Aussage – und warum überrascht es mich nicht im Geringsten, dass Bosley wieder einmal mit einer Gegenfrage aufwartet ...

   „Sind Vögel wirklich frei?“, wirft er leise ein.

Ich ächze genervt und Bosley schmunzelt wieder.

   „Das war bloß eine einfache Frage. Sie wollen frei wie ein Vogel sein, folgerichtig müssen Sie diesen Zustand beschreiben können.“

Da hat er absolut recht, also versuche ich, stockend eine Erklärung abzugeben.

   „Na ja, ich meine, wie soll ich sagen …“

Es fällt mir tatsächlich schwer, die Erklärung in Worte zu fassen.

   „Vögel sind frei, sie schweben hoch in den Lüften. Sie fliegen, wohin sie wollen und bewältigen alle Barrieren“, antworte ich schließlich hastig.

   „Ja, Vögel schweben in der Luft, können über Berge fliegen, aber sind sie aufgrund dieser Fähigkeit deshalb frei? Sind wir einmal ehrlich, auch Vögel müssen ihr Futter suchen, müssen Nester bauen und bei schlechtem Wetter entweder in den Süden fliegen oder Unterschlupf suchen. Also sind Vögel auch nicht gänzlich frei, sondern agieren, ebenfalls wie wir Menschen, in einem vorgegebenen Muster, wenngleich dieses unserem nicht exakt entspricht.“

   „Wollen Sie mir jetzt verklickern, dass Vögel nicht frei sind?“, herrsche ich Bosley nach einer kurzen Denkpause an.

   „Nein, das will ich damit nicht sagen, aber …“, er macht eine kleine Pause, „auch Vögel haben ihre Regeln und ihre Aufgaben. Ihr Leben ist, wie schon erwähnt, ebenfalls von Mustern geprägt, in denen sie sich zwar durchaus frei bewegen können. Und das ist gar nicht so verschieden von unseren Möglichkeiten.“

Ich versuche einen letzten schwachen Einwand loszuwerden, denn mir schwant, dass Bosley erneut die Oberhand bei unserer Diskussion behalten wird.

   „Aber sie können fliegen und brauchen dafür nicht ihre Beine. Sie brauchen keine Hilfe bei ihrer Fortbewegung.“

Meine Antwort klingt wie eine trotzige Reaktion eines Kindes, aber im Moment bin ich eben am Verzweifeln, da ist es schwer, wie ein Erwachsener zu denken.

   „Ach, kommen Sie, Nolan, hören Sie auf, sich selbst zu bemitleiden. Auch Vögel brauchen ihre Beine und ihre Flügel, die sie für ihre Art der Fortbewegung letztlich benutzen. Diese sind genauso verletzlich wie unser Körper. Sie können sich nach wie vor fortbewegen, nur gebrauchen Sie eben den Rollstuhl als Hilfsmittel, so wie ich meine Beinprothese trage und benötige. Letztendlich ist es vielleicht nicht mehr so, wie es normal sein soll, aber – was ist bitte schon normal? Es liegt an Ihnen alleine, sich frei zu fühlen. Freiheit ist nicht für jeden Menschen gleich definiert.

Wenn man im Gefängnis sitzt, bedeutet Freiheit, einfach aus der Tür zu gehen, wohin man eben will. Das können Sie ja – ergo, sind Sie frei. Für einen unglücklich verheirateten Mann oder eine Frau, wir wollen ja niemanden bevorzugen, bedeutet Freiheit wohl, keinen Ehering mehr zu tragen, während glücklich verheiratete Menschen sich oft trotz des Eheringes frei fühlen.“

Bosley ist nun so richtig in Fahrt.

   „Oder ein weiteres Beispiel aus der Fauna. Für ein Tier in einem Zoo bedeutet Freiheit, aus dem Käfig oder dem Gehege zu kommen, um mitten in der Wildnis zu leben. Hier bedeutet Freiheit aber gleichfalls gefährliches Leben, denn in der Wildnis lauern unzählige Gefahren für die Tiere. Ist es dann für ein Tier überhaupt erstrebenswert, frei zu sein?“

Mir raucht bereits der Kopf.

Bosley schafft es jederzeit und zu jeglichen Themen Gegenargumente zu bringen. Ich gestehe, momentan habe ich wirklich Probleme, den Begriff „Frei“ zu definieren. Frei zu sein bedeutet für jeden Menschen Unterschiedliches, da hat mein Gegenüber unbestritten recht. Die Frage, die sich jetzt stellt, ist, was bedeutet dieses Wort für mich?

   „Sie machen mich verrückt, Bosley. Warum müssen Sie immer recht behalten?“

Nun kichert Bosley erheitert.

   „Es ist meine Aufgabe, Sie aus der Reserve zu locken. Ich möchte Ihnen nicht vorschreiben, wie Sie Ihr Leben zukünftig gestalten, sondern habe die Absicht viele verschiedene Möglichkeiten aufzuzeigen.

Ich gebe Ihnen die Freiheit, zu entscheiden, welcher Weg für Sie akzeptabel erscheint. Sehen Sie, Sie haben die Freiheit zu entscheiden!“, triumphiert er und zwinkert mit seinem Auge.

Ich schüttle resignierend mit dem Kopf.

   „Okay, also ich habe Entscheidungsfreiheit“, lenke ich erst versöhnlich ein, bevor ich gleich aufs Neue aufbrause. „Wenn wir schon dabei sind, ist diese vielleicht vorhanden, aber deshalb nicht unbedingt unendlich groß. Meine Entscheidung schlägt bereits fehl, wenn ich weiß, dass ich nicht mehr in mein altes Zuhause zurück kann. Ich habe zwar Entscheidungsfreiheit, woanders zu wohnen, aber vielleicht will ich das gar nicht?“

Ich begehre erneut auf und meine Stimme wird, wie bereits so oft zuvor, zunehmend lauter.

   „Ich scheiß auf die Freiheit, zu entscheiden, wenn ich viel lieber gar nichts verändern wollte. Die Tatsache, dass ich es muss, beschneidet meine Freiheit, also bin ich doch nicht mehr frei.“

   „Aus Ihnen spricht Angst. Das heißt aber nicht, dass Sie nicht mehr frei entscheiden dürfen.“

Bingo! Bosley hat mich ertappt und ausgesprochen, was ich fühle.

 

   „Ja, ich habe Angst“, stelle ich ernüchtert fest. „Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich die Befürchtung, einfachste Dinge nicht mehr zu schaffen. Ich werde oft Hilfe brauchen und genau das war bislang nicht notwendig. Ja, ich habe Angst, weil ich nicht mehr laufen kann. Es wird mir ja nicht einmal mehr möglich sein, vor dieser Angst wegzulaufen!“ …