Das Vermächtnis

… Er wusste nicht mehr, wie er ins Lazarett gekommen war. Als er aufwachte, blickte er in die Augen einer Krankenschwester, die sich gerade an einem Tropf zu schaffen gemacht hatte. Langsam tauchten die vergangenen Geschehnisse vor seinen Augen auf.

„Habe ich noch beide Beine?“, flüsterte er matt. Das Lächeln und Nicken der Krankenschwester ließ ihn erleichtert seufzen. Langsam klarte sein nebeliges Sichtfeld auf und er erblickte einen Verwundeten, der direkt neben ihm lag. Sein Kopf war in Bandagen gehüllt und seine rechte Hand eingegipst. Seine müden Augen blickten scheu auf Wickerson.

Das Lazarett füllte sich schnell mit weiteren Opfern. Es herrschte absolutes Chaos. Joseph Wickerson war nahe daran, aufzugeben. Nicht, dass er große Schmerzen fühlte, oder momentan um sein Leben fürchten musste, aber dieser Krieg sah auf einmal so völlig sinnlos aus.

Es würde keine Gewinner geben!

Er war mitten in einem Krieg gelandet, den er niemals gewollt hatte und trotzdem musste er dafür sein Leben riskieren. Zwei seiner Freunde hatte er bereits verloren und er war sich im Klaren, dass noch viele mehr folgen würden.

Sein Nachbar hatte sich stöhnend hochgerappelt. Sein Gesicht war blass und sein Atem klang rasselnd. Flüsternd machte er auf sich aufmerksam. Joseph Wickerson hatte Mühe, seine gemurmelten Worte zu verstehen.

„Was für eine Rolle?“, zischte er schließlich.

Es dauerte ein wenig, bis Antwort kam.

„Die Rolle …, sie ist in meinem Rucksack. Nimm sie zu dir, wenn ich

von dieser Welt gehe.“

„Komm schon, gibt nicht auf. Du schaffst es“, versuchte Wickerson, den Mann aufzumuntern, doch mit nur einem kurzen Blick in dessen matte und glanzlose Augen fühlte er, dass dieser mit dem Tod rang.

Er schluckte und versuchte den Kloß im Hals hinunterzuwürgen, doch vergebens. Die Krankenschwester war nirgendwo zu sehen, kein Arzt weit und breit – sie waren wohl bei einer Operation eines schwer verwundeten Soldaten oder schafften weitere Verletzte zum Lazarett – was sollte er bloß tun?

„Hör mir bitte genau zu“, meldete sich neuerlich die hauchende Stimme. „Behalte diese Rolle, sie ist von unschätzbarem Wert.“

Das abermals geräuschvolle Ausatmen des Mannes unterbrach seine Worte.

„Schwester!“, brüllte Joseph Wickerson nun. Es musste doch endlich jemand in der Nähe sein, der diesem Mann zu Hilfe kommen konnte.

„Es ist zu spät, mein Freund“, war die fast tonlose Stimme wieder zu hören. „Diese Rolle …, es ist die Abras–Bibel. Sie beinhaltet Aufzeichnungen, wichtige Vorhersagen, die zum Fortbestand der Menschheit dienen. Öffne diese Schriften aber nicht vor 2018! So wurde es mir seinerzeit bei der Übernahme aufgetragen.“

Joseph Wickerson starrte auf den Mann. 2018? Das war ferne Zukunft. Wie konnte dieser Mann wissen, was in 77 Jahren passieren würde?

Wer war er eigentlich?

„Hüte diese Rolle wie deinen Schatz, versprich es bitte, denn nur dann kann Frieden auf Erden einkehren.“

Das Rasseln seines Atems wurde bedrohlich laut. Endlich erspähte Joseph Wickerson eine Schwester, nach der er sofort lautstark brüllte.

Für die Rettung des Mannes war es trotzdem zu spät. Er war ein weiteres Opfer eines brutalen und sinnlosen Krieges geworden.

Doch die Worte hatten sich in Wickerson gebrannt und unbemerkt griff er wenig später in den Rucksack des verstorbenen Soldaten, um die wertvolle Rolle an sich zu nehmen.

Eigentlich war es eine in Plastik gehüllte Papierrolle, aber es blieb keine Zeit für genauere Begutachtung.

Wickersons Wunde am Bein wurde täglich gesäubert und gehegt, aber Joseph Wickerson konnte sein Bein trotzdem nicht so bald wieder belasten, was ihn für den Kampf unbrauchbar machte. Die Möglichkeit einer Heimkehr ergriff er deshalb rasch und ohne nachzudenken. Er war bloß froh, dem Krieg zu entkommen. Sein Bein würde in absehbarer Zeit genesen, doch die Wunde in seinem Herzen würde niemals zur Gänze verheilen!

Gleich nach Beendigung der erfolgreichen „Operation Crusader“ am 18. Januar 1942 wurde Joseph Wickerson in seine Heimat Neuseeland zurückgeschickt. Mit im Gepäck hatte er die Rolle des Mannes, die er sofort nach Eintreffen in seinem Haus auf dem Dachboden in das kleine, geheime Versteck verfrachtete. Er konnte einen Schatz wie diesen, zumindest, wenn man den Worten des sterbenden Soldaten Glauben schenkte, nicht einfach ungeschützt herumliegen lassen – nicht zu Kriegszeiten.

 

Erst als der Krieg schon lange vorbei war, entsann sich Joseph Wickerson wieder des kostbaren Schatzes auf seinem Dachboden. Eines Abends holte er das Päckchen hervor und entrollte vorsichtig das Papier. Hervor kamen Zeichen und Symbole, mit denen Joseph Wickerson nichts anfangen konnte. Doch er sollte den Schatz ja sowieso nicht vor 2018 näher betrachten, weshalb er die Rolle in handliche Blätter zerschnitt und schließlich einen Ledereinband anfertigte.

Falls er vor 2018 das Zeitliche segnen sollte, so würde sein Sohn Earl nach seinem Tod diese Blätter weiterhin hüten.

Bei einem ihrer gemeinsamen Ausflüge zum Fischen weihte er den Sohn in sein Geheimnis ein. Und 2018, so hatte Joseph Wickerson mitgeteilt, würde es an der Zeit sein, das Buch hervorzuholen, um die sonderbaren Zeichen zu entschlüsseln.

 

Es war keine Frage, dass Earl der Bitte seines Vaters nachkommen würde ...