Mord am scharfen "S"

aus der Jubiläumsanthologie zur NIBU 2022

... Der Körper des scharfen S‘ wurde empfindlich in die Länge gezogen und nahm rasch Fahrt auf, als er durch eine Schleuse flitzte. Wie auf der Geisterbahn rutschte er über den blanken Untergrund hinab, bis in eine finstere Höhle, in der sich der Schall der undefinierbaren Laute, ähnlich einem Stöhnen, ausbreitete. Krampfhaft versuchte er Halt zu finden. Den rasanten Trip hinunter in die Tiefen der Erde zu stoppen, das war sein Ziel. Aber seine Arme fanden keinen Halt. Während er verblüfft auf seine neuen Gliedmaßen starrte, wurde sein Fall endlich abgebremst. Schließlich erreichte er mit einem lauten Auftreffen am Boden das Ende der Höllenfahrt.

 

Mühsam rappelte er sich hoch. Seine Blicke schweiften durch die Gegend. Alles, was er erkennen konnte, waren dunkle Wände aus Stein. Die feuchte Beschaffenheit der Luft schien sich an den Wänden zu sammeln und ließ diese funkelnd schimmern. Ein fahles Kerzenlicht flackerte verhalten, bis durch eine sich öffnende Tür ein Hauch eines Lüftchens strömte. Schritte zeugten von der Anwesenheit anderer.

„Hallo!“, erklang seine Stimme, die sich auf der Stelle im Widerhall des Echos verlor. Ein Klacken. Dann das Aufblitzen eines Lichtes. Er senkte seine Lider.

 

„Blendet dich etwa das Licht?“, erklang eine tiefe Stimme.

Mit einem Mal wurde es hell. Lampen, allesamt an der Wand angebracht, die mit flackernden Flammen ein Kerzenlicht imitierten, erhellten den Raum. Mittig war ein runder Tisch zu sehen, an dem einige Personen saßen. Sie alle blickten ihm gespannt entgegen.

 

„Nun, wen haben wir denn da? Wer bist du?“, fragte einer der Männer, während er sich erhob und auf ihn zuschritt.

„Ich bin das scharfe S.“ Seine Stimme zitterte ein wenig. Die prüfenden Blicke seines Gegenübers schienen ihn zu durchbohren. „Herr S, also. Interessant. Und warum bist du hier?“ „Ich habe keine Ahnung, wo bin ich denn überhaupt?“ Höhnisches Lachen erklang. „Du bist in der Gruft“, antwortete der Mann, „und du musst etwas angestellt haben, sonst hättest du keinen Zutritt bekommen.“ Sein Grinsen war noch immer breit. „Übrigens, ich bin Herr Kafka. Franz Kafka.“

Er reichte ihm seine Hand, die S ergeben ergriff.

„Ich freue mich. Sie sind also Kafka. Was machen SIE denn hier? Fangen Sie etwa Käfer?“

Kafkas Miene verfinsterte sich auf der Stelle.

„Vorsicht!“, meldete sich eine weitere Stimme, bevor S weitersprechen konnte. „Er ist heute nicht gerade guter Laune.“ Der Mann erhob sich ebenfalls. „Gestatten, dass ich mich vorstelle. Böll, Heinrich Böll.“

S hob seine Augenbrauen.

„Sie sind Böll, der Schriftsteller?“ Ein Nicken bejahte diese Frage. „Sind Sie alle Autoren?“

Sein Blick schweifte zum fast voll besetzten Tisch.

Einheitliches Nicken.

„Gestatten, Johann Wolfgang von Goethe.“ „Ich bin William Shakespeare.“ „Hermann Hesse ist mein Name.“ „Ich bin Jakob Ludwig Karl Grimm.“ „Und ich bin sein Bruder, Wilhelm Carl.“

„Ihr seid die berühmten Gebrüder Grimm!“ „Ganz recht“, antwortete Jakob, der ältere der beiden.

„Ich bin übriges Ernst Jandl.“ „Und mich nennt man Miguel de Cervantes“, stellte sich der letzte Mann mit einer leichten Verneigung vor.

 

S stand sprichwörtlich der Mund offen. „Ich bin überwältigt. So viele berühmte Schriftsteller an einem Tisch vereint. Allergings gestehe ich, euch nicht erkannt zu haben.“

„Das ist gut möglich“, antwortete Cervantes. „Wir haben uns an die Begebenheiten der Gegenwart angepasst und lieben die moderne Sprache.“ S schmunzelte.

„Aber sagt mir, warum seid denn ihr in der Gruft?“

Kafka nahm wieder auf seinem Sessel Platz, bevor er antwortete. „Grundsätzlich wohnen wir nicht hier. Wir und einige Kollegen haben eine Sondergenehmigung und dürfen Neuzugänge empfangen.“ „Und ausfragen“, unterbrach ihn Hesse grinsend.

„Was meint ihr damit?“ S runzelte die Stirn. Verstohlen öffnete er sich die oberste seiner Rundungen, denn es war ziemlich heiß im Raum geworden.

„Wir suchen Stoff für unsere neuen Romane, Erzählungen oder Lyrikbände.“

Es war S schwer, seine Verblüffung zu unterdrücken.

„Ihr schreibt noch immer? Wozu denn das? Ihr seid ja alle tot!“

„Ja, eben“, entrüstete sich Shakespeare. „Was sollen wir denn sonst mit unserer Zeit anfangen?“

„Nun, ich weiß auch nicht. Aber vielleicht etwas Sinnvolles …“ Kafka unterbrach ihn. Seine Stimme hatte einen gefährlichen Unterton angenommen. „Was soll das heißen? Meinst du gar, Schreiben wäre sinnlos?“ S lenkte sogleich ein. „Natürlich nicht, so war das nicht gemeint. Aber …“ Er geriet ins Stocken. „Ich verstehe momentan rein gar nichts.“

„Das sagen sie alle“, kicherte Cervantes. „Schenke uns lieber endlich reinen Wein ein. Wieso bist du hier?“

S hob bedauernd seine Schultern. „Ich weiß es wirklich nicht. Ich kann mich nur erinnern, dass dieser Lektor …, Günter Berger heißt er, einen Kommentar geschrieben hat. Er meinte, das ß sei TOT!“ Ein trauriger Schatten blitzte in seinen Augen auf. „Er hat mich mit dieser Aussage geradewegs ermordet. Günter Berger ist der Mörder. Ich bin absolut unschuldig.“

 

„Du bist demnach das Opfer“, stellte Shakespeare fest, während Jandl leise murmelte. „Opfer sein oder nicht Opfer sein, das ist hier die Frage.“

„Hey, das ist mein Spruch!“, entrüstete sich Shakespeare auf der Stelle. „Na und?“ Jandl verzog seine Lippen spöttisch. „Nichts na und, das ist eindeutig Verletzung des Urheberrechtes.“ „Pfff … Nicht schon wieder William, ich habe dich doch nur zitiert. Du kannst mich gerne auch mal wörtlich wiedergeben. Dagegen habe ich nichts einzuwenden.“ Shakespeare rollte mit den Augen. „Als ob jemand dein schtzngrmm, schtzngrmm, t-t-t-t, t-t-t-t, grrrmmmmm, t-t-t-t auch wiederholen könnte.“ Jandl grinste breit. „Also, du bist gar nicht so schlecht darin.“

Kafka erhob sich und seufzte.

„Meine Lieben, ihr werdet wohl nicht erneut im Streite versinken.“ „Wieso Streit, wir diskutieren bloß.“ Shakespeare unterbrach Jandl mit einer energischen Handbewegung.

„Hören wir lieber, was unser Gast zu berichten hat.“

 

S jedoch, blieb stumm. Schließlich blickte er in die Runde.

„Wer hat euch die Sondergenehmigung zur Befragung der Neuzugänge gegeben?“

Böll erhob sich wieder und schritt auf ihn zu.

„Das war der Obergrufti. Er ist der Handlanger der Rechtschreibkommission und hat hier das Sagen.“

„Ich bin also in der Gruft?“ Aus dem Gesicht des scharfen S‘ wich alle Farbe, während er seine Augen weit aufriss. Böll blickte zu Hermann Hesse, der mit der Schulter zuckte. „Ja.“ Seine kurze Antwort ließ S verzweifelt seufzen. „Aber wieso? Ich bin nicht tot. Ganz sicher nicht.“

„Doch, so ist es. Bei der Rechtschreibreform wurde das einfach beschlossen. Es ist eine Tatsache. Wir wissen, dass sie deinem Vorgänger, dem ‚SZ‘ auch den Garaus gemacht haben. So ist das eben.“ Kafka unterbrach Böll und wandte sich an S, aber Jandl kam ihm zuvor. „Du musst modern denken“, schlug der Schriftsteller vor, während Kafka die Augen genervt verdrehte. Versöhnlich merkte er an: „In der Literatur wird sowieso vieles erlaubt. Man muss seine Worte bloß gut verkaufen können.“

„Stimmt auch wieder.“ Böll konnte ein Kichern nicht zurückhalten. „Du hast keine Ahnung, was Leute in deine Texte so alles hineininterpretieren. Ganz plötzlich wird deine Geschichte interessant und schlussendlich zum Renner der Saison. Und du hast absolut keine Ahnung, wieso!“

 

S‘ Schultern hingen trotz der aufheiternden Worte herab und er nahm dankend Platz, als ihn einer der Grimm-Brüder dazu aufforderte.

„Was soll ich nur machen?“, jammerte er. „Ich bin …, also das scharfe S ist noch lange nicht tot. Glaubt mir, bitte. Wird es ja fortwährend verwendet. Immerhin besagt die letzte Regelung, wenn ein Vokal vor dem s-Laut lang ist, oder gar nach einem Zwielaut dann gelte ich, das scharfe S. Ich werde noch gebraucht! Ganz sicher.“

„Sag das lieber dem Lektor. Wie war gleich sein Name?“ „Er heißt Berger“, antwortete S. Goethe erhob sich und schritt langsam durch den Raum. Er murmelte. „Also, wenn ich zusammenfasse, dann ist das scharfe S in die Gruft verbannt worden, weil ein Lektor anscheinend den Buchstaben für tot erklärt hat, was ich überhaupt nicht nachvollziehen kann, nimmt man die neueste Rechtschreibreform als Beweis, wird das scharfe S ja weiterhin verwendet, nämlich in sehr vielen Fällen noch, und es sei nicht vergessen, …“ Schallendes Lachen erklang aus Cervantes Mund. „Wolfgang vertritt heute anscheinend Adalbert und Heinrich.“

„Wen meinst du damit?“ S hatte sich gefangen und blickte gespannt auf Cervantes. „Na, ich meinte Adalbert Stifter und Heinrich von Kleist.“

S schien irritiert.

„Wieso vertritt er die beiden? Ich verstehe nicht ganz.“ „Wolfgangs Gemurmel zeigte sich ohne Punkt. Er hat seine Gedanken in einem einzigen Satz ausgesprochen, einem ellenlangen, nur getrennt von unzähligen Beistrichen. Das machten die beiden auch gerne. Es war ihre Art zu schreiben und zu beschreiben. Aber ehrlich gestanden, weiß man dann am Ende der Buchseite nicht mehr, womit sie begonnen hat.“ Cervantes Kichern hallte durch den Raum.

 

„Nichtsdestotrotz muss ich darauf bestehen, dass ich gar nicht in die Gruft gehöre.“ S holte tief Luft. „Ich bin ein ehrenwertes Buchstabenmitglied des Alphabets und Lektor Berger ist mein Mörder. ER sollte eigentlich in der Gruft schmoren!“ ...