Dunkle Materie

... Keine Ahnung, was ich genau erwartet habe, aber ich bin nach dem Eintreten ins Gebäude ein wenig enttäuscht. Weiße Wände, endlos lange Gänge und unendlich viele Türen entfalten sich vor uns. Außerdem ist es ungewöhnlich still hier. Nur wenn man ganz genau hinhört, kann man das eifrige Tippen auf einer Tastatur vernehmen. Carlos steckt bei jeder Tür seine Nase hindurch und gibt sich schließlich gelangweilt.

„Da ist es ja in jedem anderen Büro unterhaltsamer oder aufregender. Es klingeln wenigstens manchmal Telefone oder man hört das aufgeregte Geschnatter eifriger Bürodamen. Hier hingegen herrscht totale Langeweile.“

Ich kann Carlos nichts entgegenhalten. In der Kanzlei war ständig ein geschäftiges „Kommen und Gehen“ gewesen und durchweg Geplauder zu hören, oder, wie wir Männer es immer nannten – Diskussionen, egal, ob es sich um einen aktuellen Fall oder um Privates gehandelt hatte. Das Gebimmel der Telefone war eher aufdringlich und hatte mich oftmals fast um meine Fassung gebracht. Vor allem das typische Geräusch der arbeitenden Kaffeemaschine war eine willkommene Klangkulisse. Es war nicht nur das Wichtigste, sondern auch im gesamten Büro allgegenwärtig. Kurz gesagt, es war Leben in der Bude. Hier in diesem Gebäude herrscht jedoch der krasse Gegensatz.

Verdrossen gehen wir einen schmalen Gang entlang. Hinein ins Unbekannte und in eine unwirklich erscheinende Ruhe. Ob wir überhaupt jemanden finden können, weiß ich nicht. Mir scheint es ein Gang ins Nirgendwo zu sein.

Plötzlich ist ein lautes „Hatschiiii“ zu hören, das uns erschrocken zusammenzucken lässt. Carlos Lippen verziehen sich zu einem heiteren Schmunzeln.

„So, jetzt sind wahrscheinlich alle aufgewacht“, und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schmettert er ein lautes: „Guten Morgen!“, in den Gang. Als die Tür vor uns unerwartet geöffnet wird, erschrecken wir dennoch wie ertappt. Ein großer und drahtig in der Statur wirkender Mann schreitet in den Gang und lässt die Tür zum Büro hinter sich zufallen. Er nestelt an seiner Hosentasche und zieht schließlich ein Taschentuch hervor. Er schnäuzt sich und lässt damit den Geräuschpegel auf ungeahnte Höhen schnellen. Mit energischen Schritten steuert er die Tür schräg vis-á-vis an. Ohne zu klopfen, öffnet er diese und tritt, von uns dicht gefolgt, aber ohne uns zu bemerken, ein.

„Ha! Hier ist ja unser Telefonierer!“, ruft Jacob erfreut aus. „So ein Zufall, wir müssen ihn also gar nicht suchen.“

„Was ist eigentlich los, Stetson?“, kommt der sich fortwährend das Taschentuch an die Nase haltende Mann sofort zur Sache. Unser telefonierender Mann heißt also Stetson.

„Wieso? Was soll denn los sein?“

„Ich warte noch immer auf das überarbeitete Programm. Sie wissen, dass dafür die höchste Dringlichkeitsstufe gilt?“ Stetson lehnt sich gelangweilt zurück und blickt seinem Gegenüber durch halb geöffnete Augenlider entgegen. „Sicher weiß ich das, aber ich habe Ihnen gestern gesagt, dass das noch ein wenig dauern wird. Ich arbeite daran.“

„Mann, wir brauchen das Programm! Setzten Sie sich endlich auf Ihren Hosenboden, anstatt mit dem Auto in der Gegend herumzukurven. Sie werden fürs Arbeiten bezahlt!“

Stetson nickt und blickt den durch die Tür entschwindenden Mann hinterher. Dann greift er zum Handy. Mit einem einzigen Klick scheint er eine Verbindung herzustellen. Wir können es einige Male läuten hören, bis schließlich eine Stimme

ertönt. „Hallo, Claus! Was hast du zu berichten?“

„Ich stecke in Schwierigkeiten, Robert“, zischt Stetson aufgeregt, „Bradford will das überarbeitete Programm.“ „Ich dachte, die nehmen dir den IT’ler ab? Das waren exakt deine Worte, vor gar nicht allzu langer Zeit.“ „Ach, rück das verdammte Programm heraus, sonst fliegt meine Tarnung auf“, herrscht Stetson nun ins Handy. Anscheinend willigt Robert ein. Obwohl wir nur mehr ein Gebrumme hören können, gibt sich Stetson nämlich zufrieden und beendet das Gespräch auffallend schnell. Erst greift er in die rechte Lade, bevor er zielsicher einen Apfel hervorholt. Mit einer Leichtigkeit schwingt er seine Beine auf den Schreibtisch und beißt schließlich herzhaft in das Obststück.

„Ich glaube, hier wird es so bald nicht interessant werden. Lasst uns zu diesem Bradford gehen. Der war ziemlich aufgeregt. Möglicherweise erfahren wir, um welches Programm es sich handelt und weshalb es Stetson anscheinend nicht abändern kann.“

Emilys Vorschlag wird einheitlich akzeptiert und wir begeben uns wieder zurück auf den Gang, doch Bradfords Tür steht offen.

„Der Vogel ist ausgeflogen“, stellt Carlos nach einem kurzen Blick ins Innere ernüchtert fest. Als wir jedoch neuerlich ein Niesen vernehmen, ist uns klar, wohin wir uns wenden müssen. Durch eine schmale Öffnung dringt ein wenig Licht in den Gang. Vorsichtig treten wir durch die leicht geöffnete Tür und in der Tat, wir finden Bradford vor, der einem ziemlich steif wirkenden Mann gegenüber sitzt.

„Sind Sie sich absolut sicher, dass wir das Programm ändern müssen,Mister?“ Mister nickt, enthält sich aber jeglichen Kommentars. „Wir haben aber das Programm streng nach Ihrer Anleitung übernommen. Wieso hat es nicht funktioniert?“

Mister blinzelt leicht mit seinen Augen – und, da kann ich es sehen! Der Mann hat rote Augen! Ich schwöre, noch niemals in meinem Leben habe ich solche Augen gesehen. Rot blitzend und scharf wie Peperoni. Ob er Kontaktlinsen trägt? Aber, wer bitte schön, setzt sich freiwillig Linsen in solch einer ungewöhnlichen Farbe ein, wenn es nicht gerade Halloween ist. Unerwartet vernehmen wir eine Stimme. Mister setzt nämlich zu einer Erklärung an.

 

„Das Programm ist nicht korrekt!“ …