Mord am scharfen "S"

aus der Jubiläumsanthologie zur NIBU 2022

… Während er von seinen Kollegen beobachtet wurde, glitten seine Augen über die Worte. Bald legte er das Manuskript auf den Tisch nieder.

„Es stimmt. Ich kann Berger verstehen. Dieser Boltmann schreibt das ‚dass‘ jedes Mal mit 'ß'. Für meinen Geschmack verwendet er dieses Wort sowieso viel zu oft. Kaum zu glauben, dass er der Beste der Besten sein soll!“

„Was verwundert dich an dieser Tatsache? Die Rechtschreibung hat nichts damit zu tun.“ Bölls Stirn stand in Falten.

„Na du musst es ja wissen“, warf Goethe ein. „Immerhin hattest du eine eigene Sekretärin notwendig, die sich deiner miserablen Rechtschreibung angenommen hat.“

Bölls Stirn glättete sich, während seine Lippen zu einem schiefen Schmunzeln emporschwangen. „Was ist daran verwegen? Sie beherrschte die Rechtschreibung eben besser als ich.“

„Wahrscheinlich kann sich Boltmann selbst gut verkaufen. Das ist in der Schriftstellerei durchaus dienlich, um Erfolg zu haben.“ Kafka ließ sich neben Jandl nieder und las ebenfalls eine Weile. „Das scharfe S ist nicht sein einziges Problem. Boltmanns Rechtschreibung lässt wirklich zu wünschen übrig. Korrekte Groß- und Kleinschreibung scheint ihm ebenfalls fremd zu sein.“

 

Auch Goethe griff nun nach dem Werk. Aber als Shakespeare sich wenig später anschickte, daraus vorzulesen, winkte S energisch ab.

„Ihr wollt doch nicht etwa die gesamte Geschichte lesen?“

„Warum eigentlich nicht?“ Jakob Grimm zeigte sich interessiert. „Wir können Anregungen gut gebrauchen.“

„Jetzt nicht!“ S war aufgebracht. „Vergesst eure Geschichte, ich habe wirklich ein schweres Problem. Ich möchte auf gar keinen Fall zurück in die Gruft.“

 

„Na gut“, ächzte Hesse. „Dann lasst uns diesem Schwachsinn ein Ende setzen.“

„Wieso Schwachsinn? Es geht um mein Leben.“ Empörung war aus S Stimme zu erkennen. „Ich muss Konrad Duden beweisen, dass ich noch nicht tot bin.“

„Hast du einen Plan, wie du das bewerkstelligen kannst?“ Kafka kratzte sich am Kopf. „Ja, selbstverständlich. Ich muss Berger bloß dazu bringen, diesen Kommentar durchzustreichen.“

 

„Nichts einfacher als das.“ Jandl griff zum Rotstift, den er aus der Hosentasche hervorzog. „Wieso bist du derjenige? Lass doch Heinrich die Korrekturen durchführen.“ Zornige Blicke trafen auf Cervantes. „Willst du behaupten, er wäre der bessere Schriftsteller?“

Kafka war aufgesprungen. Er ahnte, was nun folgen würde. Sie waren sich letztens oftmals in den Haaren gelegen. Sie eiferten um die grandiose Geschichte, die im Schriftstellerparadies auf der jährlichen Bestsellerliste den ersten Platz erlangen sollte. Das war der Grund, warum sie sich regelmäßig in die Gruft begaben. An diesem wenig einladenden Ort, der mit seinen Geräuschen und der feucht geschwängerten Luft mehr abstoßend als einladend wirkte. Dort fanden sie jedoch die Seelen der Personen, die Grauenvolles berichteten, was sie dann in ihre Plots einbauen konnten, um die notwendige Spannung in der eigenen Story zu erzielen. Nur deshalb fanden sie sich im schaurigen Ambiente der Gruft.

 

Das scharfe S war in diesem Moment vergessen.

Die angeregte Diskussion steigerte sich, ihre Stimmen wurden lauter und die Worte wurden unfreundlicher.

 

S stand neben Berger und beobachtete den Disput der Schriftsteller. Er fragte sich ernsthaft, ob er noch Hilfe erwarten konnte. Mit einem heftigen Kopfschütteln verpuffte dieser Wunsch. Nein, das scharfe S musste selbst handeln.

 

Konrad Dudens spöttisch grinsendes Gesicht tauchte in seinen Gedanken auf. Er wollte diesen Mann nicht mehr treffen und er wollte seine Seele auch nicht in den Händen der Rechtschreibkommission wissen …