Explosiv

… „Scheiße, wir verlieren ihn!“

Lester wirkt wie besessen, doch ich spüre, anscheinend ergeht es Mayers ebenso, dass es zu spät ist. Als das gleißende Licht den Mann aufstehen lässt und dieser schnell aus unserem Blickfeld gleitet, schließt Mayers seine Augen.

„Wir haben ihn verloren“, flüstert er.

Lester fährt mit seinen Wiederbelebungsmaßnahmen fort, auch als der Schein längst verschwunden ist. Er ist wie in Trance und arbeitet besessen und unaufhörlich. Vorsichtig beuge ich mich zu ihm und berühre seine Schulter.

„Hören Sie auf, Lester, es ist vorbei.“

„Wie bitte?“ Irritiert blickt Lester auf.

„Er ist gestorben.“

Meine Worte sind kaum hörbar. Ich schlucke. Wir konnten diesem Bergsteiger nicht helfen, unsere Aufgabe haben wir somit gänzlich vergeigt. Mir scheint, als hätten wir versagt.

„Was wohl Sanders dazu sagen wird, wenn er erfährt, dass wir es nicht geschafft haben?“

Meine Frage bleibt unbeantwortet, denn wir alle sind starr vor Schreck, Schock und Entsetzen. Fassungslos blicken wir auf den nackten, leblosen Körper, der unter der sich durch den Wind öffnenden Thermodecke sichtbar wird und sind perplex, dass es uns nicht gelungen ist, unseren Auftrag zu erfüllen.

Auf einmal vernehmen wir den Klingelton eines Handys. Das Geräusch ist so unverhofft, dass wir alle zusammenzucken. In der Einöde des Berges wirkt er fast schon aufdringlich und genau genommen störend.

„Hier bekommt man eine Funkverbindung?“, murmelt Lester überrascht, „das dachte ich nicht.“

Mayers blickt sich sofort suchend um und eilt auf einen rötlichen Fleck im Schnee zu. Es ist der rote Anzug des Mannes und nachdem er die Taschen durchwühlt hatte, streckt er ein Handy hoch. Schnell begeben wir uns zu Mayers, der stirnrunzelnd auf das Display des Handys starrt.

„Er hat eine Nachricht erhalten. Aber mit dieser SMS kann ich so gar nichts anfangen …“, murmelt er.

„Was hat wer geschrieben?“, fragt Lester neugierig.

Mayers liest vor: „SOS!!! Komm schnell in die Anlage, wir haben einen Überläufer. Die Anlage ist in Gefahr!!!“

Mayers, der nun den SMS-Verlauf durchsieht, schüttelt seinen Kopf.

„Kann vielleicht jemand Russisch? Einige der Nachrichten sind kyrillisch geschrieben.“

Keiner von uns ist der russischen Sprache mächtig, doch Lester lässt spontan seiner Fantasie freien Lauf.

„Es geht um einen Überläufer!? Das deutet auf die russische Mafia hin. Vielleicht ist er ja eine ganz wichtige Person im verstrickten Netz der Mafia-Vorgänge. Oder er ist vom russischen Geheimdienst …“

„Kommen Sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Er ist ein Bergsteiger“, werfe ich ein, aber Lester unterbricht mich sofort: „Natürlich besteht noch die Möglichkeit, dass er einen anderen Beruf hat. Nicht alle Bergsteiger sind dies hauptberuflich … Vielleicht ist er ermordet worden?“

„Ja, vom Wetter“, antworte ich sarkastisch.

„Trotzdem, es ist eine wirklich sonderbare Nachricht.“ Lester macht eine kurze Pause. „Irgendwie stimmt da etwas nicht. Ich habe das Gefühl, dass wir an einer ganz großen Sache dran sind.“

„Damit könnten Sie sogar recht haben!“

Erschrocken wenden wir uns der Stimme hinter uns zu. Der Bergsteiger, nun in Kleider gepackt, steht vor uns und blickt uns abschätzend entgegen. Dann verbeugt er sich leicht.

„Ich darf mich vorstellen … Alexej Spasokovskij.“

Sein russischer Akzent ist unverkennbar.

„Spaso … wie war das?“, stottert Lester.

„Es freut mich, Sie kennenzulernen“, übernehme ich schnell, „wenn Sie einverstanden sind, werden wir Sie mit Ihrem Vornamen ansprechen, der ist für uns Amerikaner, Kanadier eingeschlossen“, füge ich schnell mit einem Blick auf Mayers hinzu, „definitiv leichter auszusprechen.“

Alexej nickt lächelnd und gibt sein Einverständnis.

„Ich bin Matt Coleman und das hier ist meine Frau Emily“, beginne ich meine Vorstellung. „Mit in unserem Team ist mein ehemaliger Angestellter Carlos Lester und unser Pilot Jacob Mayers.“

„Es freut mich, Sie alle kennenzulernen. Mr. Sanders hat mich zu Ihnen geschickt und mir Ihre Hilfe zugesagt.“

„Ach ja, hat er das?“ Lester braust schon wieder auf. „Die SMS klingt angsteinflößend und beunruhigend, vielleicht ist das eine Nummer zu groß für uns.“

„Mhmmm, ja, das könnte tatsächlich der Fall sein. Aber ich habe Mr. Sanders um das beste Team gebeten, denn meine Aufgabe ist hochbrisant.“

„Also doch eine Mafiageschichte!?“

Nun geht die Fantasie mit Lester gänzlich durch – ich halte mich im Augenblick lieber an Tatsachen.

Trotzdem spüre ich Verzweiflung aufkeimen. Jetzt habe ich gerade einmal den Gipfel erklommen, übrigens ohne gebraucht zu werden und nun, da wir endlich helfen hätten können – sind wir zu spät gekommen. Eigentlich dachte ich, dass dieser Fall unsere Aufgabe gewesen war, aber anscheinend hat Sanders uns für weitere Herausforderungen verplant.

„Hat Sanders nicht etwas von Doppelauftrag erwähnt?“, vernehme ich die Stimme meiner Frau. Hat er das? Ich kann mich gar nicht daran erinnern, deshalb zucke ich mit den Schultern.

„Na, sicher doch“, ereifert sich Emily. „Gleich nach unserem letzten Auftrag. Weißt du nicht mehr?“

„Nein, ich habe wirklich keine Ahnung“, versichere ich ihr.

„Also, Sanders hat uns mitgeteilt, warme Kleidung zu packen. Er erwähnte einen Doppelauftrag, ich kann mich ganz genau daran erinnern. Erst sollten wir zum K2 und dann nach Sibirien.“

Als Emily Sibirien erwähnt, zucke ich zusammen. Natürlich, nun kann auch ich mich erinnern. Es wird also weiterhin kalt bleiben.

„Aber was sollen wir in Sibirien?“

„Da kann wahrscheinlich ich weiterhelfen“, mischt sich nun Alexej ein. „Die besagte Anlage, die in der von Ihnen gesichteten SMS erwähnt wird, befindet sich in Sibirien.“

Natürlich bin ich wieder neugierig und möchte mehr erfahren.

„Von welcher Art Anlage sprechen wir hier überhaupt?“

Alexej holt tief Luft.

 

„Es ist ein Atomkraftwerk!“ …